Der 90. Geburtstag
Mitte Juni 2024 haben sich einige Klassenkameraden in Wiesbaden und Rüdesheim (Bericht darüber folgt später) beim Autor des folgenden Beitrags, Hans Hermann Müller, zu unserem traditionellen Sommertreffen zusammengefunden. Während eines sehr unterhaltsamen Abendessens entstand die Idee, unserem Klassenlehrer, Eckhardt „Jonny” Verbeek, anlässlich seines 90. Geburtstags einige Erinnerungen aus unserer Schulzeit zu widmen. Hans Hermann hat am schnellsten geschaltet und die folgende Anekdote zu Papier gebracht. Die Fotos in der unten folgenden Galerie entstammen meinem Archiv.
Bekanntlich macht eine Schwalbe noch lange keinen Sommer. Darum möchte ich diesen Beitrag nutzen, um auch alle anderen Klassenkameraden zu animieren, damit sie ebenfalls zur Feder greifen und eigene Erinnerungen an ihre Schulzeit mit unserem Klassenlehrer zu Papier bringen. Gerne würde ich diese Stories hier veröffentlichen. Michael „Leo” Mette.
Aus den Aufzeichnungen eines Ehemaligen
Die folgende Geschichte kann man beginnen mit: Es war einmal – .
Denn sie ist lange her. Sie geschah in einer Zeit, als man noch mit einem Bleistift auf Papier rechnete. Als man mit einem Apparat telefonierte, der mit einer Kabelstrippe an der Wand angebunden war. In dieser Zeit fuhren die meisten noch nicht mit einem Automobil, und die, die das taten, oft mit einem VW-Käfer. Der zwar keine Benzinuhr hatte, aber einen Hebel zur Einschaltung einer „Reserve“ und einen „Winker“ rechts und links. Damals, in den 50er und 60er Jahren, fuhren Eisenbahnzüge pünktlich ab und kamen pünktlich an, und zwar immer. Und dass, obwohl viele Lokomotiven noch mit Koks befeuert und mit Dampf betrieben wurden, weswegen sie mächtig aus ihrem Schornstein rauchten. Um ein Gymnasium zu besuchen, brauchte man eine bestandene einwöchige Aufnahmeprüfung. In jener heute so fernen Zeit waren wir die Schüler. Ich auch, nach der vierten Grundschulklasse. In einem Gymnasium, in dem es keine Mädchen gab. Die Mädchen wurden in einem separaten Institut vermutlich dazu angehalten, sich damenhaft zu benehmen und ihre Tugend tapfer zu verteidigen.
Doch damals interessierte mich so etwas noch nicht so sehr. Für mich war vieles anders. Im Gegensatz zur bisher absolvierten Grundschule hatte ich nun nicht nur einen Lehrer für alle Fächer – was nicht schlecht ist, wenn man einen jungen ideenreichen Lehrer hatte, so wie ich. Sondern jetzt gab es für jedes Fach einen besonderen Lehrer. Die hatten alle eines gemeinsam: sie waren im Gegensatz zu meinem Grundschullehrer nicht mehr die Jüngsten. Einer musste sogar einen Gehstock benutzen, wie viele andere Männer auch, die nicht heil durch den Krieg gekommen waren. Auch unser Sportlehrer hatte die 50 schon deutlich überschritten. Der stellte sich unter das Reck, fasste die Stange an, um zu zeigen, wie die Turnübung „Aufschwung – Umschwung – Unterschwung“ zu beginnen sei. Darauf ließ er die Stange wieder los und zeigte mit dem Finger, wie sich unser Körper von dieser Grundstellung aus zu bewegen habe. Anschließend kam einer nach dem anderen dran, und im Laufe vieler Turnstunden hatten die meisten mit der Methode „Versuch und Irrtum“ irgendeinen Weg gefunden, die beschriebene Übung zu absolvieren. So war es auch draußen, an der Sprunggrube oder auf der Aschenbahn: wir erhielten eine kurze Einweisung über das, was zu leisten sei. Dann sprangen wir und liefen, und unser Lehrer stand etwas abseits dabei und nickte mit dem Kopf. Zuletzt durften wir Fußball spielen. Wir ließen ihn in Ruhe und er uns. Das war das System, das alle kannten und akzeptierten.
Doch eines Tages erschien unser Sportlehrer mit einem jungen Mann an seiner Seite. Das sei ein Referendar, wurde uns bedeutet, der lerne noch das, was ein Lehrer zu tun habe, und das lerne er, indem er das Unterrichten selbst versuche. Also, für die nächsten Stunden sei dieser Herr, er heiße übrigens Verbeek, unser neuer, vorläufiger Sportlehrer. Sprach’s, und ließ uns mit dem Jungspund stehen.
Wir waren sprachlos. Was nun? – Der Herr Verbeek, er schien uns kaum älter als wir selbst, wußte, wie es weitergehen sollte. Aufstellen, los, wir marschierten zum Universitäts-Stadion. Zunächst mal auflockern. Gymnastische Übungen. Dann Einlaufen. Wir stellten uns in breiter Front nebeneinander auf. Ein Startpfiff. Wir trabten los, die Ehrgeizigen schneller, die anderen langsamer, man will es ja nicht übertreiben. – Aber was war denn das? Der Lehrer lief ja mit! Und nicht nur mit! Überholte den Blacky, den Fritz, und sogar den Wilfried Wagner! Und kam mit deutlichem Vorsprung vor uns auf der anderen Seite des Platzes an.
Drehte sich um. Sah uns herankeuchen. War empört – oder tat er nur so? So ein Sauhaufen! Keine Form, keine Kondition, Hasenfüße, Drückeberger, Memmen und Schlappschwänze seien wir!
So geht das nicht. Das müssen wir ändern. Und gleich fangen wir damit an. Umdrehen, Aufstellen in einer Reihe, Startpfiff. Ich strengte mich an. Ich lief, was ich konnte. Aber was war da zu machen – es war wie bei der Geschichte vom Hasen und dem Igel. Wie oft wir auch liefen, wohin wir auch sprinteten- dieser Neue, dieser Herr Verbeek, war immer längst vor uns da. Obwohl er Lehrer war. Und daher an die Seitenlinie gehört hätte, auf eine Bank, wo man ihn hätte in Ruhe lassen können und er uns.
Wir rannten, bis die Stunde um war. Kein Fußballspiel heute, wo ich mich hätte ins Tor stellen und ausruhen können, wenigstens zeitweise. Mir schwante Schreckliches. In der nächsten Stunde ging es weiter. Und blieb, bis der Herr Verbeek sein Examen gemacht hatte, regulär eingesetzt wurde und unser alter Sportlehrer wieder übernahm.
Der wunderte sich. Bei den anstehenden Bundesjugendspielen gab es deutlich bessere Ergebnisse.
Ich wunderte mich auch. Auf dem Heimweg nach der Schule musste ich mit dem Fahrrad eine ordentliche Steigung hinauf. Da hatte ich immer geschoben. Jetzt kam ich fahrend hinauf. Keuchend zwar, aber das machte mir nichts mehr aus. (Hans Hermann Müller)
Die restlichen Bilder, die ich aus meinem Archiv herausgesucht habe, dokumentieren – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – weitere Stationen eines aufregenden Lehrerlebens.
hwliese
20. 07.24 @ 23:10
lieber don miguel, wem der dank gehört, entscheidet der, der das schreibt. ich weiß, dass du mit der bilderauswahl und dem auftritt in dieser seite ganz schön viel arbeit gehabt hast. unabhängig davon, dass hhm sehr schön geschrieben hat, hast du die umfangreichere arbeit gerade noch rechtzeitig fertig bekommen…also danke auch dir .
es muß 63/64 gewesen sein: sportstunde, eingesprungene rolle vorwärts…..dass sport nicht mein ding war, wißt ihr alle. aber einen gewissen ehrgeiz hatte ich schon und habe es einfach probiert….. peng-bumm, das knie war voll im gesicht gelandet ! jonny stand neben der matte, hatte aber keine aktien in diesem sprung, war sicher erschrocken. kurze ohnmacht, nasenbluten, krankenwagen, 2 tage krankenhaus, leichte gehirnerschütterung. nachdem ich wieder am unterricht teilnehmen konnte, hatte er einen kurzen, zutreffenden kommentar: … .nm… wäre das nicht passiert…der hatte wohl damals nach seiner einschätzung ein kleines bäuchlein, dass diesen treffer im gesicht verhindert hätte…..
aber soweit, dass diese aussage die wurzel zu meinem jetzigen bauch gelegt hätte, will ich nicht gehen. immerhin zeigte mir dieser vorfall, dass ich sowohl ein auch erschütterbares gehirn hatte und dass ein kleines(!) bäuchlein vorteile haben kann….wobei mein sportlicher ehrgeiz seit dieser zeit ruht.
Jörg Lupo Boese
20. 07.24 @ 22:07
Lieber Michael, herzlichen Dank für diesen tollen Beitrag mit Bildern von unserem einmaligen Klassenlehrer Jonny Verbeek.
Erinnerungen werden wach an eine tolle Zeit mit ihm.
Sonnige Grüße von Anne und Lupo
C. Michael Mette
20. 07.24 @ 22:27
Liebe Anne und lieber Lupo,
der Dank gebührt auf jeden Fall Hans Hermann Müller, der diesen wunderschönen Text geschrieben hat. Zur Zeit macht er mit seiner Frau Marianne Urlaub in St. Peter-Ording. Danach, so hat er mich wissen lassen, ist er hoffentlich erholt genug für weitere Textbeiträge in unserem Weblog.
Die Mettes grüßen zurück!